Es klang so schön: “Buntheit, Toleranz, Vielfalt, Diversität, den anderen stehen lassen”: Programmformeln eines euphorischen Pluralismus. Die Anerkennung von verschiedenen Lebensformen, Religionen und Weltanschauungen – all dies ist zweifelsfrei ein großer Fortschritt gewesen, der teils bitter erkämpft worden ist. Doch so wertvoll dies auch ist, es zeigt sich nun, dass das Problem des Pluralismus in seiner Radikalität in der Praxis noch völlig unbearbeitet ist. All diese Formeln beschönigen nur das Problem, wie es sich in seiner Radikalität nun in den letzten Tagen zeigt.
Denn die Diversität, die Euphorie für Differenz, für “das andere”, manchmal auch: für das exotisch Anmutende ist nur eine Seite der Pluralismus. So richtig werden wir erst jetzt mit dem Pluralismus als radikalem Phänomen konfrontiert. Denn bis dato bekamen wir es vor allem mit einem gezähmten Pluralismus zu tun.
Der gezähmte Pluralismus entstand, als man erkannte, dass man die Welt auch anders sehen kann; dass es verschiedene Perspektiven gibt, die ihre Berechtigung haben mögen. Oder als man sah, dass es auch verschiedene Lebensformen gibt, die das Wichtige im Leben anders sehen. Es ist der Übergang von einer Welt der fraglosen Identität zur Sensibilität für Differenz; für das Abweichende. Es ging um ein “Lob der Andersheit“, die uns bereichern mag, uns neue Seiten der Welt erschließt, kurzum: eine Differenz, die wir zur Selbststeigerung nutzen können. Es ist die Differenz, die Touristen erleben, wenn sie voller Fernweh zu neuen Ufern aufbrechen, um das exotische Andere kennenzulernen. Doch dabei stößt man immer auch auf das Unverständliche im anderen, welches sich nicht ohne Weiteres aneignen lässt. Dies wird dann ignoriert; es bleibt gleichgültig. Das Lob der Andersheit wird begleitet von einer immer noch größeren lebensweltlichen Indifferenz. Die verschiedenen pluralen Perspektiven müssen zum Beispiel im großstädtischen Alltag ausgeblendet werden, um einigermaßen gut navigieren zu können. Das geht bis hin zur Ignoranz, die sich im großzügigen “Wenn’s den anderen glücklich macht!” ausdrückt. Dies ist die lebensweltliche Überlebensstrategie, um mit einer Überzahl an Perspektiven zurecht zu kommen, ohne sich jedes Mal damit befassen zu müssen. Diese Strategie geht einher mit einem Ethos der Mäßigung: Wenn man seine Perspektive vertritt möge man das doch bitte in einem gemäßigten Tonfall machen. Man soll keine allzu festen Ansichten, keine allzu starken Geltungsansprüche vertreten. Man möge sich doch bitte nicht leidenschaftlich ereifern.
Man sieht: dieser gemäßigt Pluralismus war voller versteckter Voraussetzungen. Man hält die Pluralität aus unter der Bedingung, dass sie sich nicht wirklich zeigt. Man erträgt den anderen insofern er sich sich diskret mit seiner Andersheit zurückhält und sich im Sprechen an unsere Regeln hält. Kurz: die Zähmung des Pluralismus erfolgte auf der Grundlage eines unhinterfragten Konsens. Der Konsens kann mehrere Formen annehmen (das Recht als Grundlage, die Verständigung als Zielvorstellung, der Kampf um die Anerkennung als Modus oder unhinterfragbare Gesprächsregeln als Ausgangspunkt) ich beschränke mich auf letzteres.
Dies wäre Habermas Idee einer kommunikativen Vernunft. Die Idee von Habermas war: immer mehr Perspektiven müssen in einem “herrschaftsfreien Diskurs” integriert werden. Jede Perspektive darf in der Öffentlichkeit nur dann zu Wort kommen, wenn sie sich an die “allen Menschen einsichtigen” Gesprächsregeln hält. Nun meine ich auch, dass solche Gesprächsregeln unverzichtbar sind und ich halte es für unerträglich, wenn diese Regeln überschritten werden. Ich will nicht über Unmenschliches jedes Mal diskutieren müssen. Schon eine rationale pro-kontra Diskussion über die Frage der Folter halte ich für verfehlt. Auch die Idee eines Supergrundrechts auf Sicherheit ist für mich indiskutabel. Und ja: ich möchte gar nicht jedes Mal begründen müssen, warum ich es für in Ordnung halte, dass verschiedene Menschen ihr Leben nach eigenen Vorstellungen gestalten können. Aber hier ist der Punkt: indem ich das tue vertrete ich einen starken Geltungsanspruch. Ich behaupte etwas universell Gültiges. Und damit wird klar: auch dieser Konsens steht nicht auf einer ewigen Grundlage. Er kann bestritten oder eher noch: völlig ignoriert werden. Diese Art der – im Grunde vom Bildungsbürgertum getragenen – Gesprächsregeln lassen sich nur schlecht durchsetzen, wenn sie nicht als einsichtig akzeptiert werden. Somit ist dieser Konsens brüchig und fragil. Außerdem können diese Gesprächsregeln auch andere mundtot machen. Jeder, der mit zu viel Überzeugung, zu viel Leidenschaft auftritt, kann möglicherweise ignoriert werden. Jeder Diskurs produziert auch Menschen, die nicht gehört werden können; die überhört werden müssen, damit der Diskurs funktioniert. Diese große, inklusive Geste, wird von einem Schatten gesteigerter Exklusion begleitet.
Denn jeder, der nicht an der kommunikativen Vernunft im Sinne von Habermas teilhaben kann oder will, der bleibt ausgeschlossen in der “kommunikativen Hölle”. Er muss draußen bleiben und zumeist kann er auch nicht mehr hineinkommen, wenn ihm einmal das Rederecht entzogen wurde. Dabei zeigt sich auch: ganz so herrschaftsfrei kann dieser Diskurs nicht sein. Irgendjemand stellt die Regeln auf und setzt sie durch, nach denen entschieden wird, welche Stimmen überhaupt Gehör finden.
Eine der wichtigsten Einwände an dieser Stelle ist: selbst, wenn es einen Konsens unter großen Teilen der Politik gibt, der Dissens wird immer wieder kommen. Und ein Denken, dass ohne Alternative auf einen fraglos gültigen Konsens setzt, ist nicht mehr handlungsfähig, wenn dieser Konsens mit großer Macht hinterfragt wird. Alles, was dann bleibt, ist die Skandalisierung, die moralische Empörung, eine Politik der geschlossenen Reihen und der Appell an das großer Einvernehmen “unter allen demokratischen Kräften”. Dies ist, was zur Zeit passiert. Und es ist völlig klar, wie DIESE Reaktion den Rechtspopulismus in die Hände spielt. Gerade das Skandalisieren, das Ausschließen, das nicht Einladen auf Veranstaltungen führt zur Solidarisierung mit den vermeintlichen Opfern des Establishments. Es scheint nun fast, als müsste man dem Widerstreit zwischen verschiedenen Selbstverständlichkeiten begegnen lernen.
Denn Radikale Pluralität zeigt sich nicht einfach darin, dass man bestreitet, dass ein Konsens über Gesprächsregeln notwendig ist (das will ich gerade nicht), sondern darin, dass deutlich wird, wie dieser Konsens umstritten ist. Es gibt einen unaufhebbaren Streit darüber, was denn nun “gute Gesprächsführung” ist, was in Diskussionen unsagbar bleiben soll, welche Stimmen unbedingt gehört werden müssen und welche man ignorieren kann.
Hier zeigt sich die Pluralität nicht mehr als Widerspruch zwischen verschiedenen Positionen auf der Grundlage eines geteilten Wertehintergrundes, sondern als nicht aufhebarer Widerstreit. Hier prallen nicht nur Meinungen aufeinander, sondern auch sich unversöhnlich gegenüberstehende Selbstverständlichkeiten, Formen des Sprechens und Formen der Wahrnehmung. Hier gibt es also eine starke Differenz und starke Formen des Dissens. Dies ist dann nicht mehr ein netter Pluralismus, in dem Verschiedenes unverbunden und unverbindlich nebeneinandersteht. Diese tiefe Differenz muss zum Streit über die Gestaltung des Gemeinwesens führen. Der Pluralismus wird zum konfliktiven Pluralismus. Hier geht es nicht mehr um eine harmlose Buntheit, sondern hier stehen wichtige Fragen auf dem Spiel. All dies führt zur Frage des Politischen, wo es um einen unaufhebbaren Streit um das Gemeinwesen geht. Aber ist dieser Streit nicht sehr gefährlich? Sehen wir nicht, wie ein Dissens eskalieren kann? Kann es nicht zu einem symbolischen (oder gar: realen) Bürgerkrieg kommen? Wäre nicht das Lob des Steits ebenso gefährlich wie das naive Lob der Andersheit? Welche Antworten in ethischer und politischer Hinsicht kann es auf das Problem des konfliktiven Pluralismus geben? Welche Formen der Auseinandersetzung sind hier möglich? Dazu will ich ein paar Gedanken im nächsten Blogpost teilen.